Wie selbstlos ist unsere Liebe? Wo tun wir nur aus Eigennutz Gutes? Ein biblischer Impuls zur Barmherzigkeit als Ursprung und Übungsfeld echter Liebe.
Je intensiver ich in den biblisch orientierten Glauben ineinwuchs, desto grösser wurde mein Wunsch, die von Jesus und den Aposteln bezeugte bedingungslose Agape-Liebe Gottes zu verstehen und zu leben. Aber je mehr ich diese Liebe suchte und je ehrlicher ich dabei mit mir selbst wurde, desto weiter schien die Agape-Liebe vor mir zu fliehen.
"Seid vollkommen!" – "Werdet barmherzig!"
Im Vergleich der beiden Versionen der Bergpredigt im Matthäus- und im Lukasevangelium (Matthäus 5,3–7,27; Lukas 6,17–49) fand ich eine Antwort, die mir weiterhalf: Der Zusammenhang beider Stellen spricht von Gott, der seine gütige Liebe über allen Menschen walten lässt. Nun steht bei Matthäus 5,48: "Seid nun so vollkommen, wie euer Vater im Himmel ist!", während Lukas 6,36 als Entsprechung schreibt: "Werdet nun so barmherzig, wie euer (himmlischer) Vater ist!" In meinem Geist "blitzte es auf" – ich verstand, dass ich durch Barmherzigwerden den Weg der Liebe Gottes finde und an meiner Barmherzigkeit erkenne, wie weit ich auf diesem Weg schon gekommen bin.
Barmherzigkeit üben – Das Schwierigste im Gesetz
Nun wollte ich wissen, was die Bibel und besonders das Neue Testament sonst noch über Barmherzigkeit sagt, und fand deutliche Worte: Gerade den Frommen seiner Zeit, den gesetzestreuen, aber harten Pharisäern, redete Jesus mehrmals ins Gewissen und zitierte dabei den Propheten Hosea (siehe 6,6): "Gehet aber hin und lernet, was das sei: Ich habe Wohlgefallen an der Barmherzigkeit und nicht am Opfer" (Matthäus 9,13; 12,7; 23,23). Auch der Apostel Jakobus lässt es an Deutlichkeit nicht fehlen (2,13): "Denn das Gericht wird ohne Barmherzigkeit sein gegen den, der nicht Barmherzigkeit geübt hat. Denn die Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht (des Gesetzes)!" Häufiger als alle anderen schreibt der Apostel Paulus über die Barmherzigkeit, insbesondere über den "Gott, den Vater der
Erbarmungen und Gott allen Trostes" (2. Korinther 1,3), aber auch, dass wir "angesichts der Erbarmungen Gottes unseren Leib als lebendiges ... Opfer hingeben" sollen (Römer 12,1). Doch was heisst das, und wie sollen wir konkret Barmherzigkeit üben?
Barmherzigkeit als Erbarmen, Mitgefühl, Wohltätigkeit
Im weiteren Forschen fand ich heraus, dass der Begriff "Barmherzigkeit" in unseren Bibelübersetzungen mit verschiedenen Wörtern wiedergegeben wird, so etwa "Erbarmen", "Mitgefühl" oder "Wohltätigkeit". Die Grundlage dazu bilden drei griechische Begriffe im Urtext:
erstens "Erbarmen", griechisch SPLANGCHNA, das 11-mal vorkommt; zweitens "Mitgefühl", griechisch OIKTIRMON, das 8-mal vorkommt; und drittens "Wohltätigkeit", griechisch ELEOS, das 28-mal vorkommt.
"SPLANGCHNA" – Die Eingeweide, der Sitz der Gefühle
"SPLANGCHNA" – "Erbarmen, innerliches Ergriffensein" – kommt als Hauptwort und als Verb ("SPLANGNIZOMAI") vor. Als Verb finden wir es interessanterweise nur im Zusammenhang mit Jesus! Zum einen in drei Gleichnissen, in denen Jesus indirekt von sich selbst spricht: als
dem grosszügig vergebenden König (Matthäus 18,27), dem barmherzigen Samariter (Lukas 10,33) und dem liebenden Vater des "verlorenen Sohnes" (Lukas 15,20). Zum anderen bei Ereignissen, die Jesu direktes innerliches Bewegtsein
zeigen: im Blick auf die verschmachtenden Volksmengen und angesichts der von Dämonen geplagten bzw. Tote beweinenden Menschen (siehe Matthäus 9,36; 14,14; 15,32; Markus 6,34; 8,2; 9,22; Lukas 7,13). Luther übersetzte dieses tiefe, innere Ergriffensein Jesu mit "Es jammerte ihn". Wie auch immer "SPLANGCHNIZOMAI" ins Deutsche übertragen wird, es weist auf eine Regung "in den Eingeweiden" hin. In unserer Kultur betont man das Herz als Sitz der Gefühle. In der Antike – und in der Bibel – steht das Herz eher als Sitz der Entscheidungen, siehe als Beispiel Sprüche 23,26. Dagegen gelten die unteren Organe – hauptsächlich die Eingeweide – als Ort der Gefühle. Lukas und Johannes gebrauchen den Ausdruck "SPLANGCHNA" nur je einmal, Paulus neunmal, davon dreimal im Brief an seinen Freund Philemon. Es bedeutet ihm dort besonders viel, seinen Gefühlen das rechte Wort zu verleihen. So ist es auch bei uns: Tiefes
Erbarmen fängt tief in unserem Innern an. Es sind Gefühle, die plötzlich in uns aufsteigen und uns mitleiden lassen. Vielleicht haben wir sogar Tränen in den Augen und wissen nicht, warum uns etwas so bewegt. Ich denke, dass es Jesus in uns ist, der sein "innerliches Bewegtsein" auf uns "überträgt" und uns befähigt, echtes Erbarmen zu fühlen (vgl. Philipper 1,8). Widerfährt uns das, muss unsererseits
nicht unbedingt eine Reaktion erfolgen, es kann uns aber in den zweiten Begriff, das OIKTIRMON-Mitgefühl hineinführen.
OIKTIRMON – Das spontan handelnde Mitgefühl
In der griechischen Antike drückte das Wort "OIKTOS" ein Wehklagen aus, ein mit Worten ausgedrücktes Mitgefühl. Es ist die meist spontan geäusserte Reaktion auf das innere SPLANGCHNA. So kann es auch bei uns sein – ich empfinde und handle: ein Wort des Trostes, ein mitfühlender Blick, eine Hand, die sich auf den Arm des anderen legt, oder gar eine spontane Umarmung, wenn es die gesellschaftliche Nähe erlaubt. "SPLANGCHNA" und "OIKTIRMON" zusammen finden wir in einigen Aussagen von Paulus, so in Kolosser 3,12 oder in Philipper 2,1. Hier fliesst ihm Ermunterung, Trost der Liebe, Gemeinschaft des Geistes samt "innerlichen Gefühlen und Erbarmungen" aus der Feder, ja aus seinen "Eingeweiden", wie er schon in Kapitel 1,8 bezeugt, wo im griechischen Text wörtlich steht "... wie ich mich nach euch allen sehne mit den Eingeweiden Jesu Christi".
ELEOS – Die barmherzige Wohltätigkeit
"KYRIE ELEISON" – "Herr, erbarme dich!", so tönt es in den Gesängen der kirchlichen Liturgie, und das seit fast 2000 Jahren! "ELEOS" (Matthäus 9,13 und viele weitere) als Hauptwort sowie "ELEEO" (Matthäus 5,7 und viele weitere) als Verb sind die im Neuen Testament meistverwendeten Worte für Wohltätigkeit und Wohltun. Abgeleitete Formen wie "ELEEINOS" ("bemitleidenswert" in 1.Korinther 15,19
und Offenbarung 3,17), "ELEEMON" ("mitleidig" in Matthäus 5,17 und Hebräer 2,17) und "ELEEMOSYNE" ("Wohltätigkeit" sowie klangverwandt mit "Almosen" in Matthäus 6,1 und viele andere mehr) ergänzen die Grundworte. Die barmherzige Wohltätigkeit ELEEOS fasst den SPLANGCHNA- und OIKTIRMON-Zustand zusammen und ergänzt ihn durch intensiveres und "dranbleibendes" Helfen. Das kann durch ein längeres Gespräch sein, durch wiederholte Gespräche wie in der Seelsorge, durch Begleitung und Hilfe aller Art, durch Krankenpflege und Gefangenenbesuche, durch Ausbildung und – last, but not least – durch finanzielle Zuwendungen.
Barmherzigkeit – Der "messbare" Weg der Liebe
Durch diese Studie habe ich einen für mich gangbaren Weg der Agape-Liebe gefunden. An meinen tieferen SPLANGCHNA- Regungen und den daraus geborenen OIKTIRMON- und ELEOS-Handlungen kann ich immer besser erkennen, wie mehr oder weniger eigennützig meine "guten Taten" als Christ sind. Dies hilft mir, Liebe nicht mehr mit einem "religiös motivierten Pflichtgefühl" oder gar mit Berechnung – "was hier wohl für mich herausschaut" – zu verwechseln. Liebe wird für mich an meiner Barmherzigkeitsmotivation "messbar", die Gott in mir wirkt. Die Frage ist nur: Lasse ich sie zu? Ob Paulus wohl Ähnliches meinte, als er den Korinthern schrieb: "Ich prüfe
die Echtheit eurer Liebe" (2. Korinther 8,8)?
Zusammenfassung der griechischen Begriffe
Was ist SPLANGCHNA-Erbarmen? Ich empfinde tief in mir ein Ergriffensein von Leid, das mir begegnet. Ich leide mit – ohne äusserliche Handlung. Gott sieht in das Verborgene unseres Inneren und fördert dieses Erbarmen bei allen, die es zulassen.
Was ist OIKTIRMON-Mitgefühl? Ich empfinde Leid, das mir begegnet, leide mit – und handle danach in spontaner Weise, ohne mich dabei intensiver zu engagieren. Gott zeigt mir intuitiv, wie ich mich verhalten soll.
Was ist ELEEOS-Wohltätigkeit? Ich empfinde Leid, das mir begegnet, leide mit – und handle unter Einsatz meiner Möglichkeiten, mit Überlegung, Geduld und meiner Begabung. Ich setze Zeit und Werte ein. Gott hilft mir dabei und achtet auf das Mass.